(woi) Bei der Aktion Bildungsprotest am 09. Juni hielt Georg Rammer für Attac auf dem Friedrichsplatz in Karlsruhe die unten wieder gegebene Rede - auch mit den Themen, die am Samstag bei „Wir zahlen nicht für eure Krise“ in Stuttgart aktuell sein werden.
Aktion Bildungsprotest Karlsruhe, 9.6.2010
Respekt und Gerechtigkeit!
Die Verhältnisse im Land sind Besorgnis erregend: Es herrscht eine krasse Spaltung in Arm und Reich und die Politik bedient weiter die Interessen der Reichen, der Konzerne und Banken. Es ist höchste Zeit, dass wir etwas verändern: Lasst uns revolutionäre Forderungen stellen!
Fordern wir:
- Jeder hat das Recht auf Bildung!
- Niemand darf wegen seiner Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden!
- Bildung muss auf die volle Entfaltung der Persönlichkeit gerichtet sein!
Sind das „revolutionäre Forderungen“? Sie stammen nicht von Radikalen und auch nicht von Attac. Diese Forderungen sind garantierte Grundrechte unserer Verfassung und sie sind Menschenrechte! Aber längst haben wir uns daran gewöhnt, dass soziale Gerechtigkeit und Rechte, die im Grundgesetz verankert sind, nur auf dem Papier stehen und in feierlichen Reden zitiert werden. Denn wie ist die Lage in Deutschland tatsächlich?
Im Jahr 1965, also vor 45 Jahren, war in Deutschland jedes 75. Kind arm. Seitdem sind Produktivität, Reichtum und Wohlstand auf ein Vielfaches angestiegen. Und hat die Armut abgenommen? Nein, sie ist gleichzeitig auch auf ein Vielfaches angestiegen! Heute ist nämlich nicht mehr jedes 75., sondern jedes 6., in manchen Städten sogar jedes 3. Kind arm!
Sie sind arm, weil ihre Eltern arbeitslos sind oder für so niedrige Löhne arbeiten müssen, dass sie damit unter das Existenzminimum fallen. Sie sind nicht deshalb arm, weil Deutschland verelendet, sondern weil der Reichtum extrem ungerecht verteilt und in immer weniger Händen konzentriert ist. Durch Steuergeschenke, durch Arbeitsmarkt- und Sozialgesetze ist Deutschland ein sozial gespaltenes Land, ein Land, in dem einer wachsenden Gruppe von Ausgegrenzten eine “Elite” gegenüber steht, die auf geradezu obszöne Weise Reichtum und Macht anhäuft.
Ist das gerecht? Nein! In Deutschland müsste kein Kind in Armut aufwachsen!
Ein Kind, das in einem ärmeren Stadtteil, in einer ärmeren Familie zur Welt kommt, hat von vornherein schlechte Karten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es krank wird, ist viel größer, seine Lebenserwartung um zehn Jahre geringer als die eines Kindes in materiell sicheren Verhältnissen! Es ist schon benachteiligt, wenn es in die Schule kommt und seine Hoffnung, durch Bildung Selbstbewusstsein, materielle Sicherheit und soziale Anerkennung zu gewinnen, kann es sich gleich mal abschminken.
Das hat aber nichts mit Begabung und Intelligenz zu tun. Vielmehr nähert sich Deutschland feudalen Verhältnissen, in denen die Geburt über den Lebensweg entscheidet. In keinem anderen Industriestaat ist der Zugang zu Bildung so stark durch die soziale Herkunft bestimmt wie in Deutschland. Deutschland wird langsam Weltmeister, Weltmeister nämlich in der sozialen Selektion, in der Zuteilung von Chancen danach, ob jemand reiche oder arme Eltern hat!
Das widerspricht allen Grundsätzen von Gerechtigkeit und Demokratie!
Nicht, dass es den behüteten Kindern gut ginge in der Schule oder der Uni. Ganz im Gegenteil. Merkwürdig: Jedes Baby, das auf die Welt kommt, ist neugierig und lernt ungeheuer viel vom ersten Tag. Jedes Kleinkind ist wissbegierig und forscht und entdeckt ständig Neues. Wieso geht das so schnell verloren? Wie schafft man es, dass so viele Kinder mit Angst und Unlust in die Schule gehen, oft bis zur Krankheit getresst sind, oft Nachhilfe und Tabletten brauchen? Dass so viele ohne Abschluss die Schule verlassen? Man schafft es, indem man Konkurrenz züchtet, Leistungen mit Noten bewertet und die aussortiert, die es nicht gleich schaffen. Die Schülerinnen und Schüler sollen möglichst fit sein und reibungslos funktionieren. „Volle Entfaltung der Persönlichkeit“, ein Menschenrecht – schön wärs!
„Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Auch das ist so eine „revolutionäre Forderung“ aus dem Grundgesetz. Wenn es nur in Wirklichkeit gelten würde! Inzwischen ist es längst üblich, dass Pharma- und Elektronikkonzerne, Banken oder die Autoindustrie die Schulen und Unis als ihren Markt oder als Zulieferer behandeln. Sie schicken den Lehrern Unterrichtsmaterial, bezahlen ganze Forschungsabteilungen, damit die für sie arbeiten und sponsern die Professoren, damit sie ihnen gefällig sind. Eigenes Denken, Kritikfähigkeit sind unerwünscht. Auch hier zählt allein die Konkurrenz, das schnelle Durchziehen des Stoffes, die Noten für Leistung. Wer nicht mithalten kann, fliegt raus – und das alles für die Interessen der großen Konzerne.
Ist das gerecht? Wir wollen ein selbst bestimmtes Leben! Wir wollen uns nicht vermarkten lassen für Profitinteressen!
Von PolitikerInnen kriegen wir gesagt: Wir alle müssen Opfer bringen! Aber schauen wir genau: Wer bringt Opfer und wer profitiert davon? Wir hören jetzt immer wieder: Es muss ein Schutzschirm aufgespannt werden, es müssen Hunderte von Milliarden Euro an Banken gegeben werden, weil die systemrelevant sind. Wie bitte? Wer so spricht, hat den Verstand und jedes Gefühl für Menschlichkeit verloren! Systemrelevante Banken? Systemrelevant sind wir, die Menschen!
Wir wollen nicht die kleinen Figuren sein im Spiel der Konzerne und Banken –
wir wollen Respekt und Gerechtigkeit!
Georg Rammer, Attac Karlsruhe